Frühe Kurzsicht

Schon mit 1,5 Jahren bekam ich meine erste Brille. Offenbar endete das Laufenlernen bei mir darin, erst mal alles umzulaufen. Die Brille bekam ich im Winter. Die Kurzsicht muss wohl von Beginn an recht hoch gewesen sein. So wird jedenfalls berichtet, dass ich beim Verlassen des Optikers auf der Schwelle zur Straße stehen geblieben bin und lauthals mein Erstaunen über die vielen bunten Lichter, die da plötzlich waren, kundgetan habe.

Keine Nebenwirkungen?! – Von wegen!

Ich war ein lebhaftes Kind. Leider steckte die Entwicklung von optischen Kunststoffgläsern noch in den Anfängen und diese waren sehr teuer.

Einmal hat ein Kamelle vom Karnevalszug eins meiner Brillengläser durchschlagen. Einmal bin ich meinem Onkel beim Helikopter-Spielen aus der Hand geglitten und dann am Heizkörper gestrandet – das hat die Brille auch nicht unbeschadet überstanden. Die Aufzählung ließe sich fortführen. Damals gab es Brillen noch auf Rezept von der Krankenkasse. Und nach der x-ten zertrümmerten Brille gab es dann die Genehmigung der Kasse für Kunststoffgläser.

Im Grunde habe ich viel Glück gehabt. Das hätte auch mal ins Auge gehen können ….

Brillenschlange …

Ein Accessoire zur ästhetischen Verschönerung war meine Brille nicht. Die Kunststoffgläser waren in der hohen Stärke sehr dick und ich konnte ausschließlich Horngestelle auswählen. À propos auswählen: Um ein neues Gestell anzuprobieren, musste ich logischerweise die Brille absetzen. Dann konnte ich aber nichts mehr erkennen. Die neuen Gestelle ausgewählt haben also immer meine Eltern. Ich konnte dann beim Abholen erst meine neue Brille kennenlernen.

Den Spruch mit der Brillenschlange gab es natürlich hin und wieder. Das hat mich jedoch nie gestört, damit konnte man mich nicht hänseln. Die Brillenträger / Brillenträgerinnen waren in der damaligen Zeit einfach die Ausnahmen, die Besonderen, wenn man so will die Außenseiter. In meiner Grundschulklasse trugen drei Kinder eine Brille.

Schauen Sie sich mal heutige Schulklassen an: da sind die Kinder ohne Brille fast die Minderheit!

… und andere Zusprüche

Ein größeres Problem als die Brillenschlange waren die subtilen Botschaften von „das kannst du doch sowieso nicht“ – „dafür bist du wohl zu blöd“ – „wie dumm bist du denn, dass du das nicht siehst“. Ich habe meine Augen immer als fehlerhaft und mich selbst als unvermögend wahrgenommen. Im Grunde war das eine Einheit. Meine Augen waren schlecht – und ich auch. Leider war das nicht nur meine Wahrnehmung. Ich habe ja letztlich nur übernommen, was mir gespiegelt wurde.

Heute schaut man zum Glück anders auf Behinderungen.

Kontaktlinsen sollen die Kurzsicht aufhalten

Ich wuchs heran und mit mir die Kurzsichtigkeit. Als ich ca. 13 Jahre alt war schlug der Augenarzt vor, ich solle Kontaktlinsen probieren. Studien würden die Hoffnung nähren, dass der Druck, den die Kontaktlinse auf das Auge ausübt, das fortschreitende Wachstum des Augapfels zum Stillstand bringen könne.

Also bekam ich Kontaktlinsen – und kannte mich nicht mehr im Spiegel. Die Umstellung war mir sehr fremd und ich habe eine ganze Weile gebraucht, um mich an mein neues Selbst zu gewöhnen.

Natürlich erlaubten die Kontaktlinsen eine deutlich höhere Freiheit. Freiheit für das Gesichtsfeld, das vorher an den dicken Hornrändern der Brille endete. Freiheit, eine Sonnenbrille tragen zu können. Und Freiheit für den Visus. Die optischen Eigenschaften der Kontaktlinsen sind einfach alleine schon dadurch viel besser, dass sie direkt auf dem Auge sitzen.

Finde den Fehler

Die Jahre vergingen und aus meiner Sicht war eigentlich alles gut. In regelmäßigen Abständen brauchte ich neue Kontaktlinsen, was ich damals für normal hielt.

Ich war in einer Augenarztpraxis, die ein Ehepaar führte. Der Augenarzt kannte mich schon recht lange und er war es, der die Idee mit den Kontaktlinsen hatte. Die gesamte Behandlung der Kontaktlinsen-Patienten wurde von der Augenärztin durchgeführt. Sie kontrollierte also regelmäßig den Visus und passte bei Bedarf die neuen Kontaktlinsen an. Darin allerdings erschöpfte sich ihre Dienstleistung. Weitere Untersuchungen oder Aufklärungen ihrerseits fanden nicht statt.

Ich war Patientin und jugendlich. Ich hatte keine Ahnung über die Gefahren, die mir drohten.

Pathologische Myopie ist nicht harmlos!

Dann geschah etwas für mich ebenso unvorstell- wie unvorhersehbares.

Ich habe nie viel von Schminken gehalten, weil mir das Hantieren mit irgendwelchen Gerätschaften an meinen Augen immer sehr suspekt war. Das Auftragen wäre ja vielleicht noch gegangen, aber das Herumreiben an den Augen zum Abschminken kam für mich wirklich nicht infrage. So viel schöner konnte man gar nicht werden, um diese Belästigung der Augen zu rechtfertigen. An einem Heiligen Abend hatte ich dann aber doch mal Lust, mich zu schminken. Heute mal was Besonderes. Ich begann mit dem rechten Auge, warum auch immer, alles so weit so gut. Dann kam das linke Auge an die Reihe. Ich schloss es und sah – nichts. Auge wieder auf. Irritation. Fragezeichen. Linkes Auge wieder zu. Schminken unmöglich, ich sah nichts mehr. Abwechselnd mit einer Hand jedes Auge zuhalten. Nur das linke Auge sieht. Schock.

Das war wie gesagt an Weihnachten und ich musste das Ende der Weihnachtspause abwarten, bevor ich zum Augenarzt gehen konnte. Auf die Idee, als Notfall eine Klinik aufzusuchen, bin ich nicht gekommen. So wurde in meiner Familie nicht gedacht.

Die Augenärztin, die mit den Kontaktlinsen, wollte wissen, warum ich außerhalb des Kontrollrhythmusses käme. „Ich sehe auf einem Auge nichts mehr“, sagte ich ihr. „Das kann nicht sein“, war ihre Antwort! Unglaublich! Sie zog dann ihr Refraktometer hervor und ich sollte die berühmten Zahlen lesen. Ich sagte ihr, dass da keine Zahlen seien. Sie wurde tatsächlich relativ ungehalten ob meiner Anstellerei und zog ein weiteres Untersuchungsgerät heran, das den Blick ins Auge ermöglicht. Und dann wurde sie panisch. Sie ließ mich sitzen und rannte laut rufend ins Behandlungszimmer ihres Mannes. „Dieter, Dieter, du musst sofort kommen, da ist Blut auf der Netzhaut, da ist Blut auf der Netzhaut!“ Dieter kam, sah und hieß mich sofort ins Klinikum fahren. Auf der Stelle, keine Umwege.

Was war passiert? Die Netzhaut war gerissen. Und in diesem Riss hatten sich Ödeme gebildet, da ich ihn zu lange nicht bemerkt hatte. Der Zug war abgefahren und keine Behandlung mehr möglich. Immerhin hat man mir im Klinikum erklärt, was passiert war und warum. Zu Dieter und seiner Frau bin ich nicht mehr zurückgekehrt.

Später wurde mir klar, dass der Riss im Laufe des frühen Herbstes passiert sein musste. Zu jener Zeit spielte ich regelmäßig jede Woche Squash. Ich war eine mittelmäßige Spielerin, würde mich nicht als übermäßig sportlich bezeichnen. Aber irgendwann im Herbst hatte ich begonnen, wirklich schlecht zu spielen. Ich traf kaum noch den Ball, verlor nur noch und meine Mitspieler (wir wechselten in einer größeren Gruppe immer rund) seufzten, wenn ich bei ihnen an der Reihe war. Mit nur einem Auge fehlt das räumliche Sehen. Völlig logisch. Aber dies als Warnsignal zu deuten, wäre mir nicht in den Sinn gekommen – ich wusste ja nichts über die Gefahr.

Leider ist die Netzhaut genau in der Makula gerissen, der Stelle des schärfsten Sehens. Da gibt es jetzt einen hübschen Fuchs’schen Fleck. Ich war 22 Jahre alt.

Ab jetzt: regelmäßige Kontrollen!

Das war ein großer Schock und die Angst, dass so etwas auch beim linken Auge passieren könnte, riesengroß.

Ich fand einen anderen Augenarzt, Prof. Mircea Dutescu, bei dem ich blieb, bis er seine Praxis aus Altersgründen aufgab. Im halbjährlichen Rhythmus wurden beide Netzhäute kontrolliert. Wann immer sich dünne Stellen entwickelten, bei denen ein Riss hätte drohen können, wurden sie per Lasertherapie „zugenäht“. Das ist einige Male geschehen.

Meine Kurzsicht schritt immer weiter voran, immer wieder neue Kontaktlinsen waren nötig. Zum Glück blieben die Netzhaut aber stabil und es gab keine weiteren Komplikationen. Der nachfolgende Augenarzt, Prof. Bernd Bertram, sagte irgendwann zu mir, „Ihr Glaskörper hat sich jetzt vollständig gelöst und zieht nicht mehr an der Netzhaut.“ Seitdem gehe ich nur noch ein Mal jährlich zur Augenhintergrund-Kontrolle.

Unliebsame Begleiterscheinungen

Die pathologische Myopie erhöht das Risiko weitere Augenerkrankungen zu erleiden erheblich. Dazu gehören neben den Netzhautdegenerationen insbesondere Glaukom und Katarrakt.

Mit Mitte 50 begannen die Probleme mit dem grauen Star. Wie bei so vielen zunächst unbemerkt, dann aber rasant fortschreitend. Neben der üblichen Forderung „mehr Licht!“ beeinträchtigten mich vor allem Doppelbilder.

Der Augenarzt hatte schon früh eine Operation empfohlen. Vor diesem Eingriff hatte ich jedoch große Angst. Die Sorge, dass das Herumfuhrwerken in meinem Auge den letzten Rest von Netzhaut zerstören könnte, war sehr groß. Die Panik war so groß, dass ich lieber den Zustand ertragen wollte und dachte, so lange ich noch irgendetwas sehe, mache ich das nicht.

Der Zustand wurde dann aber irgendwann kaum noch erträglich. Ich konnte schon längst nicht mehr Autofahren, die Arbeit am Computer war eine Qual und nicht lange durchzuhalten und auch im Alltag nahmen die Beeinträchtigungen überhand.

So konnte ich mein gewohntes Leben nicht weiterführen.

Über den Tellerrand geschaut

Über einen VHS-Workshop hatte ich 2012 zum ersten Mal Kontakt mit der Alexander-Technik bekommen. Es gab einen Kraft-Tag für Frauen mit Elementen des Dance of Life nach Nadia Kevan und der Alexander-Technik und tollen Ideen der ausführenden Marianne Merbeck-Khouri. Ich spürte die wohltuende Energie dieser Methoden und war in den folgenden Jahren immer wieder gerne bei den monatlichen „Tanz-Dich“-Abenden von Marianne an Heilig Geist in Aachen dabei.

Ich berichtete Marianne von meinen zunehmenden Augenproblemen. Sie erzählte mir von Peter Grunwald, ein Alexander-Technik-Lehrer, der die eye-body-Methode zur Bearbeitung von Augenproblemen entwickelt hat.

Das interessierte mich sehr und ich buchte eine Intensivwoche in der Lüneburger Heide.

Alexander – Technik

Diese Woche öffnete mir buchstäblich die Augen. Ich lernte dort etwas, was ich noch nie in Bezug auf meine Augen gehabt hatte: Vertrauen.

Augenübungen werden ohne Brille durchgeführt

Ohne Brille?! Hallo, das geht gar nicht! Ich habe -20 Dioptrien! Ohne Brille bin ich hilflos! Panik!

Es gab keine Gnade, ich musste meine Brille ablegen.

Den ersten halben Tag habe ich kaum Atmen können vor Entsetzen und bin irgendwie hilflos hinter den anderen hergestolpert. In der zweiten Hälfte habe ich irgendwann beschlossen, dass es lästig ist, die ganze Zeit die Brille umklammert zu halten und habe sie weggelegt. Ab dem nächsten Tag war es mir egal.

Ich habe überlebt, also alles zu Essen beim Buffet identifiziert. Ich habe Ball gespielt, was ich eigentlich sowieso nicht kann wegen des räumlichen Sehens. Ich habe intensiv die Rinde eines Baumes studiert in all ihren Einzelheiten. Ich habe eine Nacht-Wanderung im Wald gemacht, ohne mich an irgendwelchen Hindernissen zu verletzen.

Ich habe gelernt: ich sehe unglaublich viel! Ja, die Dinge sind ziemlich verschwommen. Ja, und?! Man braucht keine klare Sicht, um Stühle und Tische zu identifizieren. Menschen erkennt man an Gang und Stimme.

Ich habe gelernt: meine Augen sind nicht schlecht, sie sind phantastisch! Und ich bin es auch!

Peter arbeitet mit der Gruppe mit praktischen Übungen und mentalen Einheiten und mit jedem einzeln mit der Alexander-Technik. Er befragt jeden Teilnehmer nach seinen spezifischen Anliegen. Ich berichtet ihm von meinem Leid mit dem grauen Star. Sein Rat war schnell klar: operieren lassen, denn nur so kann sich wieder Lebensqualität einstellen. Er sagte mir, dass wir in der Woche daran arbeiten würden, die Augen gut vorzubereiten, so dass sie für die Operation gut vorbereitet sind. Und so geschah es.

Gertrud Kutscher


Nützliche Links

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